Die Annahme, Bach habe am Ende seines Lebens all die zur Verfügung stehenden musikalischen Mittel ausgereizt, ja vielleicht sogar überreizt, ist allgemein anerkannt. So spricht Sprondel im Bach-Handbuch vom rätselhaften Spätwerk, in welchem der barocke Musiker die polyphone Gestaltung wieder neu zu erkunden sucht. Schleunig sieht diese Schaffensphase ebenso als eine des Suchens, Entdeckens, des Experimentierens, des Forschens, ja sogar des Scheiterns.
Womöglich kann der Eindruck eines Scheiterns beim Hören mancher späten Bach-Musik entstehen, betrachte man diese Musik aus der Perspektive vorgegebener Gewohnheiten, genährt durch die Vorstellung einer Ästhetik, die sich auf das sinnlich Erfahrbare bezieht. Betrachtet man hingegen die Möglichkeit einer Musik, die durch ihre strukturelle Überreizung, formale Destruktion, tonale Entfremdung oder rhythmisch wie melokinetisch motivische Deduktion in ihrer scheinbar kollabierenden Konstruktion eine Dialektik dessen ist, was ist, sein kann oder werden könnte, also mit der sinnlichen Erfahrbarkeit spielt, so thematisiert diese Musik ein Spielfeld unserer physischen und geistigen Wahrnehmungsmöglichkeiten. Sie ist eine (an-)ästhetische Musik. So erforscht Bach in seinem Spätwerk schon das, was im Rauschen des 19. Jahrhunderts gesucht und im postmodernen Frühwerk Ligetis oder Pendereckis aus seinem Versteck geholt worden ist.
Dieses Versteck besser zu verstehen und zu zeigen, dass es nicht nur ein Teil künstlerischen Schaffens ist, sondern in Kongruenz zu einem ästhetischen Grundprinzip stehen kann, ist Kern dieser Arbeit.
Um den Begriff einer Musik-(An-)Ästhetik für theoretische Betrachtungen und kompositorische Vorgänge fruchtbar zu machen, wird der Terminus Anästhetik von Nietzsche bis Welsch durchleuchtet. Letzterer postulierte schon in den Neunzigern den Wert des Wahrnehmungspotentials, das in der Reflexion des Nicht-Wahrnehmbaren steckt. Auf diese Dialektik konzentriert sich meine Komposition "Das verzerrte Opfer. Zur kosmischen Anästhetik".